Joachim Grzega's Blog

30. März 2011

Nachholbedarf in der Qualitätssicherung bei Wikipedia?

Filed under: Varia — Schlagwörter: — grzega @ 17:13

Hier ein Artikel aus der Berliner Zeitung zu einer „Ente“ in der Wikipedia:

—-

Berlin

Wikipedia

Wie ich Stalins Badezimmer erschuf

Frisch geduscht aus des Diktators Nasszelle: eine Bewohnerin der Karl-Marx-Allee. Foto: Gerd Engelsmann
Frisch geduscht aus des Diktators Nasszelle: eine Bewohnerin der Karl-Marx-Allee.

von Andreas Kopietz

Liebe Internetgemeinde! Ich entschuldige mich. Ich habe das Heiligtum der Weisheit beschmutzt, das Wissen der Vielen, die Schwarmintelligenz in die falsche Richtung gelenkt. Ich habe Wikipedia gefälscht.

Eigentlich hatte ich mich nur über jene Besserwisser erregt, die zu wissen glauben, wie der Volksmund redet. Ich kenne keinen Berliner, der den Fernsehturm jemals als „Telespargel“ bezeichnet hat, die Kongresshalle als „schwangere Auster“ betitelte, das Bundeskanzleramt als „Bundeswaschmaschine“ oder die Glaskuppel des Reichstags als „Eierwärmer“. Gut möglich, dass der Volksmund wirklich einige Berolinismen prägte – „Goldelse“ etwa. Aber die meisten sind wohl erfunden – von Journalisten, Tourismusagenten oder sonst wem. Jedenfalls nicht vom gemeinen Berliner. Ganz langsam reifte in mir der Gedanke, selbst einmal Volksmund zu sein.

Am Abend des 16. Februar 2009 klappte ich den Laptop auf. Das Fernsehprogramm war langweilig, ich trank schon das zweite Glas Rotwein. Kurz nach 21 Uhr klickte ich Wikipedia an, um der Karl-Marx-Allee in Berlin-Friedrichshain einen neuen Namen zu geben. Ich schrieb den Satz: „Wegen der charakteristischen Keramikfliesen wurde die Straße zu DDR-Zeiten im Volksmund auch ,Stalins Badezimmer‘ genannt.“ Als ich darüber nachdachte, dass diesen Unsinn niemand für wahr halten würde, hatte ich um 21.13 Uhr mein Weinglas schon versehentlich auf die Enter-Taste gestellt.

Nun kann bei Wikipedia nicht jeder alles verbreiten, was der Grund dafür ist, dass auch ich mitunter Wikipedia zum Nachschlagen genutzt habe. Eine Schar ehrenamtlicher Mitarbeiter prüft die Einträge der Nutzer vor Veröffentlichung auf Plausibilität. Ein Wikipedianer aus Wölfersheim in Hessen befand meine Version kurze Zeit später für richtig – und damit bekam der Volksmund einen neuen Begriff: „Stalins Badezimmer“.

Zu den ersten, die den Begriff übernahmen, gehörte die Seite DBpedia.org, die in Wikipedia gezielt nach bestimmten Einträgen sucht. Es folgten eine Seite für Badezimmer-Planung und mehrere Touristikunternehmen, die den Wikipedia-Inhalt übernahmen. Bald kopierten den Begriff Seiten wie visitberlin.de, strassen24 oder cliewe.de, die sich auf Ausgehtipps und Stadtführungen spezialisiert haben.

Schon ein paar Monate nach meinem üblen Scherz fand ich Lesenswertes auf einer Seite namens mugshooting, auf der ein „digitales Tagebuch“ von Berlin geführt wird. Dort glaubt ein Verfasser Folgendes zu wissen: „Inzwischen hatte sich eingebürgert, der verwendeten Fassadenfliesen wegen von ,Stalins Badezimmer‘ zu sprechen.“ Im August 2009 postete ein Tom auf der Seite nederlanders-in-berlijn.de: „Woon nu in Friedrichshain in de buurt van Stalins badezimmer.“ Sogar im Handwerkerverzeichnis, das Bezug zur Karl-Marx-Allee nimmt, findet sich Stalins Badezimmer wieder.

2009 stellte eine Frau eine Hauptseminararbeit ins Netz, die von der Utopie sozialistischer Architektur handelt. Die Arbeit verkauft sie auch als Buch für 5,99 Euro. Müßig zu erwähnen, welcher Begriff hier wissenschaftlich fundiert genannt ist.

Im April 2010 verbreitete die Illustrierte Stern ihre selbstrecherchierten Erkenntnisse zur Karl-Marx-Allee: „Die großen Wohnblöcke … werden wegen ihres Fassadendekors auch ,Zuckerbäckerbauten‘ (noch so ein schöner Begriff) genannt. Zur DDR-Zeit hieß die Straße wegen der mit Keramik gefliesten Wände im Volksmund auch „Stalins Badezimmer“.

Für gut befunden wurde mein Begriff auch vom Projekt wiki-watch, das von der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) unterhalten wird. Es will dem Nutzer helfen, die Zuverlässigkeit eines Wikipedia-Artikels einzuschätzen. Zur schnelleren Orientierung verleiht der Webdienst Sterne. Stalins Badezimmer erhielt immerhin vier von fünf Sternen sowie den Titel „Zuverlässige Quelle“.

Im Herbst 2010 verbreitet dann die Märkische Oderzeitung die Badezimmer-Mär unter Verweis auf die „charakteristischen Keramikkacheln“ (ich schrieb damals von Keramikfliesen!). Und Townster, noch ein Stadtführer, dichtet hinzu: „wegen der weißgefliesten Fassaden“…

Nicht einer gab bisher das Internet-Lexikon Wikipedia als Quelle an, und ich war erstaunt über die ungeahnte Karriere meiner Erfindung. Wer vor zwei Wochen den Begriff googelte, fand 328 Einträge. Gestern listete Google Stalins Badezimmer bereits 360 Mal auf.

Eher skeptisch hat sich eine 25-jährige Autorin aus Schweinfurt zu meiner Idee verhalten. Für Spiegel-Online verbrachte sie drei Monate jede Nacht bei einem Fremden. Sie wollte wissen, wer sich hinter einem bestimmten Facebook-Profil verbirgt. Sie schrieb: „In der letzten Woche habe ich in ,Stalins Badezimmer‘ geschlafen. So habe ich das zumindest verstanden, als mich Gerd eingeladen hat. Da wusste ich noch nicht, dass die Berliner ihren Gebäuden gerne Kosenamen geben.“ Am 1. März dieses Jahres war es dann eine Autorin der Berliner Morgenpost, die herausbekam: „Zu DDR-Zeiten hatte der Boulevard mit den sozialistischen Prachtbauten … einen anderen Spitznamen: ,Stalins Badezimmer‘ hieß die Straße im Volksmund – wegen der Keramikfliesen.“ Nur ein paar Tage zuvor war auch in der Berliner Zeitung zu lesen, dass die DDR-Hauptstädter die Allee auch „Stalins Badezimmer“ genannt hätten.

Darüber beschwerte sich am 1. März 2011 Leser Peter Jäger in einem Brief an diese Zeitung: „Ich lebe übrigens seit vielen Jahren in Berlin. Dass die Karl-Marx-Allee … von den Bürgern als Stalins Badezimmer bezeichnet wurde, ist mir neu.“ Herr Jäger ist bislang der Einzige, der diese Information nicht ungeprüft übernahm.

Weil ich ein schlechtes Gewissen bekam, löschte ich am 17. März um 17.51 Uhr Stalins Badezimmer wieder aus Wikipedia. Um 20.13 Uhr machte ein ehrenamtlicher Wikipedianer, der nach eigener Darstellung auf Berliner Stadtteile und Stadtgeschichte spezialisiert ist, meine Änderung rückgängig. Und seitdem ist es die Wahrheit, dass die Karl-Marx-Allee zu DDR-Zeiten im Volksmund Stalins Badezimmer genannt wurde.

Berliner Zeitung, 24.03.2011

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